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 Letzte Aktualisierung: 02. 08. 2024

   


In deinen Händen

Variante Nein2

Nein. Ich war weder sein Babysitter noch sein Bodyguard. Er sollte lernen, wie man sich alleine durchsetzt. Wenn man jemanden ständig bemuttert, kann der sich nie zu einer selbstständigen Person entwickeln, fand ich. Also ging ich einfach weiter und ließ die beiden ihren Kampf alleine austragen. Allerdings bekam ich dadurch nicht mit, wie Raphael blitzschnell das Messer an sich riss, Stefan zu Boden warf und ihm das Messer an die Kehle hielt. Ich verpasste auch die wahrscheinlich längste Rede, die Raphael jemals in seinem Leben gehalten hatte:
„Wenn dies ein echtes Butterflymesser wäre, müsste ich jetzt nur noch eine klitzekleine Bewegung machen und der Schulhof würde von deinem Blut überflutet werden. Alles hier wäre rot. Und ich liebe Rot. Es steht für eben nicht nur für Liebe, sondern auch für den Tod. Dir würde ich letzteren eindeutig mehr gönnen.“
Stefan war zu geschockt, um irgendetwas von sich zu geben. Ich starrte Raphael bloß verstört an und zitterte dabei am ganzen Körper. Er verharrte noch am Boden, nachdem Raphael schon nicht mehr zu sehen war. Dann sah er, dass er in sich die Hose gemacht hatte. Diesen Teil aber ließ er aus, als er später von dieser ersten erschreckenden Konfrontation mit Raphael berichtete.

Am nächsten Morgen stand in der ersten Stunde Englisch auf dem Stundenplan. Dies bedeutete ein Wiedersehen mit Frau Nansen, die uns nicht nur in Deutsch sondern auch in Englisch unterrichtete. Im Grunde fand ich sie ganz okay. Man merkte ihr an, dass sie stets bemüht war, uns etwas beizubringen. Allerdings hatte sie eine schlechte Gewohnheit: Sie hatte einen extrem starken Drang, nach jeder Stunde Hausaufgaben zu geben. Er war etwa so groß, wie mein Verlangen, Hausaufgaben zu machen, gering war. Auch in der letzten Englischstunde konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, was bedeutet, dass sie gleich wieder fragen würde, wer denn seine Hausaufgaben zeigen konnte. Wenn es ganz schlimm wurde, ging sie sogar zu jedem einzelnen Schüler, um zu kontrollieren, ob die gestellten Hausaufgaben auch gemacht worden waren. Daher empfahl es sich, in der Lage zu sein, zumindest ein bisschen vorzuzeigen, damit mir Frau Nansen keinen Strich für nicht gemachte Hausaufgaben geben konnte. Und von Selin konnte ich fast immer etwas abschreiben. So war es auch heute. Angesichts der bevorstehenden Mathe-Arbeit hatte ich einfach keine Zeit für Englisch-Hausaufgaben. Doch Selin war zur Stelle. Dank ihr und meiner außergewöhnlichen Pünktlichkeit konnte ich mich gegen Frau Nansens Schnüffelattacken wappnen.
„Good morning, boys and girls! Please take out your homework!!“
Frau Nansen kam ohne Umschweife auf ihre ach so heiligen Hausaufgaben. Und wie ich es fast geahnt hatte, ging sie heute durch die Reihen, um zu sehen, wer seine Pflicht erledigt hatte. Als sie zu mir kam, hatte sie zu meinem Erstaunen (und vielleicht auch zu ihrem) noch keinen einzigen Strich machen müssen bzw. können. Doch als sie vor meinem Tisch stand, hatte sie endlich ein Opfer gefunden. Aber es war dieses Mal nicht ich, sondern Raphael.
„Raphael!“, schimpfte sie. „Das ist jetzt schon das sechste Mal, dass du keine Hausaufgaben gemacht hast! Wie glaubst du eigentlich die Versetzung zu schaffen? Deine Arbeiten waren ebenfalls mangelhaft. Und deine sonstige Mitarbeit ist im Grunde überhaupt nicht vorhanden! Was soll ich nur mit dir machen?“
Raphael antwortete nicht darauf, was wahrscheinlich auch besser war. Ich hatte nämlich die Vermutung, dass die Frage rhetorisch gemeint war. Stattdessen sah er schweigend zu, wie sich Frau Nansen eine Notiz in ihrem Lehrerkalender machte. Zur gleichen Zeit sah ich, wie Emre im Rücken der Lehrerin eifrig etwas malte. Ich freute mich schon darauf, das Ergebnis zu sehen. Sein Gesichtsausdruck ließ nämlich auf etwas sehr Lustiges schließen. Wenige Minuten später zeigte er mir stolz sein Werk. Es zeigte,eine erboste Lehrerin, die offensichtlich Frau Nansen war, und einen Schüler mit trauriger Miene. Aus dem Mund der Lehrerin kamen folgende Worte: „You walk me animally on the cookie, Raphael!“ Ich musste so laut lachen, dass dies Frau Nansen nicht verborgen blieb. Blitzschnell eilte sie zu meinem Tisch und schnappte sich das Blatt. Dann las sie vor, was darauf stand. Sogleich kam von Kathrin eine Übersetzung: „Du gehst mir tierisch auf den Keks, Raphael!“ Danach musste erst Kathrin und dann der Rest der Klasse lachen, d.h. bis auf Raphael natürlich. Der stand auf und verließ flugs den Klassenraum. Als er nach fünf Minuten noch nicht wieder zurück war, dachte ich schon, er wäre nach Hause gegangen. Doch dann betrat er plötzlich wieder den Raum, eilte schnurstracks zu seinem Stuhl und setzte sich hin. Mir fiel auf, dass er jeglichen Augenkontakt mied. Anscheinend wollte er einfach in Ruhe gelassen werden. Diesem Gefallen tat ich ihm gerne. Und Frau Nansen anscheinend auch, denn sie fuhr einfach mit ihrem Unterricht fort, statt ihn zu befragen, wo er war. Aber das konnte man sich ohnehin denken: auf der Toilette. Wo sonst konnte man für eine kurze Zeit seine Ruhe haben oder auch finden? Dass es im Innern von Raphael ebenfalls ruhig war, bezweifelte ich irgendwie. Aber das war sein Problem. Nicht meins. Das dachte ich damals jedenfalls. Ich machte mir bloß Sorgen um die anstehende Mathe-Arbeit. Wie sich herausstellte auch nicht unbegründet. Mit meinen Schwierigkeiten war ich allerdings nicht alleine. Auch mein Nachbar Raphael stöhnte und seufzte. Sein Stift blieb dagegen fast untätig. Nach einer halben Stunde gab er schließlich auf und gab ab. Ich war versucht, seinem Beispiel zu folgen, aber mein Kampfgeist war noch nicht gänzlich erloschen. Es gab ja noch andere Nachbarn – Nachbarn, die mir nützlich werden konnten, falls ich einen Blick auf ihre Lösungen erhaschen konnte. Am Ende der Klassenarbeit hatte ich die Hoffnung, dass es für eine Vier eventuell gereicht hatte. Ansonsten hatte der Tag keine Höhepunkte zu bieten, weshalb ich gleich zum nächsten Morgen komme.
Es begann zunächst alles wie gehabt. Ich kam eine Minute zu spät, Markos sogar drei. Ungewöhnlich nur war, dass mein Nachbar Raphael noch nicht da war. Verspätungen kannte ich bisher gar nicht von ihm. Da wird er sich wohl eine etwas längere Auszeit gönnen, dachte ich. Mir war es recht. Vermissen würde ich ihn nicht. So richtig wahrgenommen hatte ich ihn bis dahin sowieso nicht. Sein Fehlen irritierte mich mehr als seine Anwesenheit.
Der Gong ertönte und leitete die erste Stunde des Tages ein: Deutsch bei Frau Nansen. Ich fühlte mich noch ziemlich müde, weil es Abend zuvor etwas später geworden war. Ich hatte ihn nämlich zusammen mit Emre und Markos im Kino verbracht. Es lief der Terminator. Folglich kamen von meinen Kumpels und mir nur wenige Störgeräusche.
Doch plötzlich. Ein Knall.
Ruckartig wurde ich hellwach. Was war das? Es klang fast nach einem Schuss. Dann Stimmen, hysterische Stimmen. Woher kamen sie? Vom Nachbarraum?
In unserem Klassenraum wurde es plötzlich mucksmäuschenstill. Niemand bewegte sich. Niemand atmete. Dann gab sich Frau Nansen einen Ruck und ging zur Tür. Doch kurz bevor sie sie erreichte, wurde die Tür plötzlich geöffnet. Raphael! Frau Nansen wich erschrocken zurück. Und im nächsten Moment wusste ich, wieso. Raphael hatte eine Schusswaffe in der Hand und er richtete sie auf Frau Nansen.
„Raphael, nein...“ bat ihn Frau Nansen und hob beschwichtigend die Arme.
Er würde doch wohl nicht … Er hatte doch wohl nicht gerade im Nachbarraum …
Ich traute mich nicht, den Gedanken zu beenden. Dann knallte es. Frau Nansen schrie auf und fiel blutend zu Boden. Raphael hatte ihren Oberkörper getroffen. Doch damit schien sein Appetit auf Blut noch nicht gestillt. Er drehte sich zur Klasse um, suchte mit seiner gezückten Waffe nach jemandem. Bitte nicht mich!, flehte ich ihn stumm an. Todesangst lähmte mich. War dies etwa mein Ende?
Nein. Er hatte es auf Kathrin abgesehen. Als die Schülerin erkannte, dass sie sein nächstes Opfer sein sollte, warf sie sich blitzschnell auf den Boden, sodass Raphael sie um ein Haar verfehlte. Dann ging er ein paar Schritte in die Klassen hinein, um seinem Opfer näher zu sein. Doch bevor er den nächsten Schuss abfeuern konnte, sprang ihn jemand an, riss ihn zu Boden und entwaffnete ihn. Dann erkannte ich das Gesicht unseres Retters- es gehörte Nick. Noch immer unter Schock fragte ich mich, ob dies alles wirklich gerade geschehen war. Oder war es bloß ein böser Traum?
Stunden später, nachdem klar war, dass Raphaels Amoklauf das Leben von Frau Nansen und Stefan gekostet hatte, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Es war das quälende Bewusstsein der Schuld, deren niederdrückende Last ich zu spüren begann. Hätte ich diese Katastrophe verhindern können, wenn ich mich anders entschieden hätte?

Dies erfährst du, wenn du hierher >>> zurückgehst und die Entscheidungsfrage(n) mit JA beantwortest.